Chemophobie: Vitamin C kann tödlich sein

Wir alle wissen: Ernährungspsychologisch gesehen ist die Deklaration von „Vitamin C“ auf Lebensmitteln sehr verkaufsfördernd, während die Nennung von „Ascorbinsäure“ die meisten Menschen abschreckt. Ein australischer Chemielehrer hat eine gute Idee, wie man dieser Chemophobie begegnen könnte.

Chemophobie: Ernährungskommunikation für Chemie-Muffel

Leider ist der Begriff der „Chemophobie“ hierzulande kaum jemandem bekannt, während es im englischsprachigen Raum dazu bereits lebhafte Diskussion gibt. Anders als die Sorge vor potenziell schädlichen Chemikalien in der Umwelt (und im Essen), die in bestimmten Fällen ja durchaus berechtigt sein kann, beschreibt die Chemophobie gem. IUPAC-Definition die „irrationale Angst vor chemischen Substanzen” – und zwar ohne sachlichen Grund. Hauptursache dieser Chemophobie, die man bei deutlichen Paranoia-Anteilen auch mal gerne als Chemonoia bezeichnet,  ist nicht das toxische Potenzial bestimmter Substanzen, sondern das Verschlafen des Chemie-Unterrichts im jugendlichen Alter.

Vorsicht: Zutatenliste von Lebensmitteln

Jeder von uns kennt Menschen, die für die kritische Prüfung der Zutatenliste eines Smoothies länger brauchen als andere für den gesamten Großeinkauf – so als handele es sich dabei um die Packungsbeilage potenziell tödlicher Medikamente. Grundsätzlich spricht natürlich nichts dagegen, sich kritisch mit den Inhaltsstoffen von Lebensmitteln auseinanderzusetzen – ganz im Gegenteil. Aber der sorgfältigste Blick in die Zutatenliste hilft leider nichts, wenn man im Chemie-Unterricht der Mittelstufe nur Schiffeversenken gespielt hat und auch später jeglicher naturwissenschaftlicher Grundbildung – selbst in Form populärwissenschaftlicher TV-Formate – systematisch aus dem Weg gegangen ist.

Chemophobie und Ernährung

Über die Bedeutung der Chemophobie im Alltag ist viel diskutiert und kontrovers worden, z. B. von Michelle Francl, David Ropeik und Gordon Gribble. Chemophobe Menschen bewegen sich in einer absurden Welt, denn es gibt natürlich kein Lebensmittel und auch sonst nichts im gesamten Universum, was keine chemische Substanz ist. Auch das Naturgesetz der Dosisabhängigkeit potenziell gesundheitsgefährlicher Effekte verschwindet in den meisten Fällen vollständig aus dem Bewusstsein: Es sind die selben Menschen, die einerseits im Rahmen des Fipronil-Skandals morgens auf das Frühstücksei verzichtet haben, obwohl das (zweifellos illegal eingesetzte) Fipronil lediglich in gesundheitlich unbedenklichen Nanogramm-Konzentrationen anzutreffen gewesen wäre, und die sich dann abends bei der Grillparty einen Aperitif, drei Bier und zwei „Verdauungsschnäpschen“ genehmigen – mit Alkohol-Mengen, die deutlich über dem liegen, was die WHO als risikoarm definiert. Je nach Grunderkrankung und Dosis kann sogar das schönste Vitamin C tödlich sein, nur mal am Rande.

Dihydrogenmonoxid: Wenn Wasser tödlich ist

Üblicherweise werden „künstliche“ chemische Substanzen als per se gefährlicher wahrgenommen als „natürliche“ chemische Substanzen. Welche bizarren Blüten dies im Kontext von Risikokommunikation treiben kann, zeigen bei allen berechtigten Bedenken teilweise völlig überzogene Ängste z. B. vor Fungiziden auf Äpfeln (gefährlicher als Schimmelpilze?), vor Glyphosat im Bier (gefährlicher als Ethanol?) oder auch vor Impfstoff-Adjuvanzien (gefährlicher als Masern-Viren?).

Ein Klassiker im Kontext von Chemophobie und Risikokommunikation ist die Geschichte hinter Dihydrogenmonoxid (DHMO). Das hört sich gefährlich an, ist aber eine chemisch korrekte Bezeichnung für: Wasser. Was könnte man über dieses Dihydrogenmonoxid nicht alles sagen, das Hauptinhaltsstoff sehr vieler Lebensmittel ist? Zutreffend wären z. B. folgende Warnungen:

  • Einatmen bereits geringer Mengen kann tödlich sein.
  • Kann in gasförmigem Zustand schwere Hautschäden verursachen.
  • Verursacht in festem Zustand bei längerem Hautkontakt irreversible Gewebeschäden.
  • Ist in hoher Konzentration in allen bekannten Tumoren enthalten.
  • Es gibt keine gesetzlichen Höchstmengen für das Vorkommen in Lebensmitteln.

Problem ist nicht Chemie, sondern Unwissenheit

Angesichts der epidemischen Ausmaße dieser Chemophobie liegt ein zeitgemäßes Marketing der Lebensmittelindustrie nahe, das Nahrungsmittel gerne als „chemiefrei“ oder „natürlich“ darstellt. Darüber kann man als Ernährungsmensch selbstverständlich müde lächeln und es gut sein lassen. Doch dieses Unwissen hat gravierende Konsequenzen für die Ernährungstherapie: Denn die wissenschaftlich fundierte Ernährungsberatung hat überall dort einen schweren Stand, wo sich die Chemophobie bereits breit gemacht hat: So ist die Angst vor Saccharose größer als vor „natürlichem“ Stevia, auf Lebensmittel mit potenziell gefährlichen E-Nummern wird zugunsten „natürlicher“ (und extrem hochkalorischer) Smoothies verzichtet, und Hypertoniker fürchten beim Verzehr einer Packung mit Lakritz-Süßigkeiten die 80 mg Glyzyrrhinsäure sehr zu Unrecht mehr als die ebenfalls enthaltenen 86 g Zucker und 10 g Kochsalz.

Ernährungsbildung für die Praxis

Der einzig vernünftige Weg, um diesem Phänomen zu begegnen, scheint also in der Ernährungsbildung zu liegen. Da der Pubertäts-parallele Chemieunterricht nicht nachgeholt werden kann, hatte der australische Chemielehrer James Kennedy von der Monash University vor kurzem eine sehr schöne Idee: Er hat sich die Mühe gemacht, und die Bestandteile ganz „natürlicher“ Lebensmittel einmal gründlich recherchiert, ordentlich aufgelistet und graphisch ansprechend gestaltet; auf seiner Homepage finden sich dazu sehr schöne Beispiele, auch im Posterformat. Hier präsentiere ich einmal die deutsche Version für ein ganz “natürliches” Hühnerei. Verwenden Sie das Bild gerne für Ihre Patientenedukation, um Mitmenschen zu erschrecken oder erfreuen Sie sich selbst daran. Was Sie in der Zutatenliste allerdings nicht finden werden, ist 5-Amino-1-(2,6-dichlor-α,α,α-trifluor-p-tolyl)-4-trifluormethylsulfinyl-1H-pyrazol-3-carbonitril – besser bekannt unter dem Trivialnamen Fipronil. Denn diese Substanz wollen auch chemophile Menschen nicht so gerne im Frühstücksei sehen.

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