Vegan oder gesund? Das ist die falsche Frage!

„Vegan kann nicht gesund sein!“ – diese häufige Beurteilung der veganen Ernährungsweise mutet aus ernährungsmedizinischer Perspektive einigermaßen bizarr an. Denn: Eine unreflektiert kritische Einschätzung beruht auf der irrigen Annahme, es gäbe eine grundsätzliche Zweitteilung von Mischkost (= alles vorhanden = kein Mangel = gesund) und veganer Kost (= begrenzte Lebensmittelauswahl = Mangel = ungesund). Das ist falsch. Fakt ist vielmehr: Eine vegane Ernährung kann ebenso gesund oder ungesund sein wie eine nicht-vegane Mischkost.

Hilfreicher Blick auf die Realität

Angesichts der ernährungsmedizinischen Realitäten in unserem Land sind die öffentlich vorgebrachten Warnungen vor den Gesundheitsrisiken einer veganen Ernährungsweise ziemlich absurd. Selbstverständlich gibt es die tragischen – weil vermeidbaren – Fälle von Kindern, die durch eine fehlerhafte vegane Ernährung irreversible neurologische Schäden erleiden (Karakaya et al. 2006, Franssen et al. 2017). Jeder dieser Fälle ist ein Fall zu viel, doch die Inzidenzen lassen sich an einer Hand abzählen.

Das sieht an anderer Stelle ganz anders aus: Während die durch einen Vitamin-B -Mangel bedingten neurologischen Schäden Raritäten sind, erreichen 94 % (!) aller Sechs- bis Zwölfjährigen in Deutschland die empfohlene Zufuhrmenge an Gemüse nicht (DGE 2008). Bei den Erwachsenen stehen den Einzelfällen vegan bedingter Mangelernährung ebenfalls Millionen Menschen mit gravierenden ernährungs(mit)bedingten Erkrankungen gegenüber, die eben nicht durch vegane Ernährung verursacht werden, sondern die das Ergebnis der vermeintlich per se „gesunden“, fleischbetonten und hyperkalorischen Mischkost sind:

Ist vegane Ernährung wirklich das Hauptproblem? 94 % aller Sechs- bis Zwölfjährigen in Deutschland erreichen die empfohlene Zufuhrmenge an Gemüse nicht.

Diese epidemischen Ausmaße ernährungs(mit)bedingter Erkrankungen gehen mit multiplen Folgeerkrankungen, Millionen Toten, erheblichen krankheitsbedingten DALY-Verlusten (disability adjusted life years) und volkswirtschaftlichen Nettokosten im dreistelligen Milliardenbereich einher – vom menschlichen Leid (und erst recht vom Tierleid) ganz zu schweigen. Die potenziellen Gesundheitsgefahren für vegan ernährte Kinder, deren Eltern nicht sorgfältig auf die Lebensmittelauswahl achten, sind unstrittig. Doch die Zahl jener Kinder, die durch hyperkalorische und andere Fehlernährungen bereits im Grundschulalter schwere Gesundheitsschäden aufweisen, dürfte millionenfach höher sein.

Interessengeleitete öffentliche Wahrnehmung

Diese Zahlen bedeuten nicht umgekehrt, dass jeder Veganer automatisch gesünder lebt als jeder Nicht-Veganer. Doch wer sich angesichts dieser dramatischen Entwicklungen auf die potenziellen Gesundheitsgefahren einer veganen Ernährung fokussiert, verkennt die Relationen ernährungsbedingter Gesundheitsgefahren. Eine besonders unrühmliche Rolle nimmt hier beispielsweise der bisherige Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft Christian Schmidt (CSU) ein, der bei jeder Gelegenheit vor den Gefahren der veganen Ernährung warnte, dabei aber gerne mit einem Bier in der Hand posierte (jährlich: 74.000 alkoholbezogene Todesfälle in Deutschland) und der die Umsetzung der WHO-Empfehlungen zur erfolgreichen Bekämpfung ernährungsbedingter Erkrankungen (Stichwort Zuckersteuer) explizit ablehnte.

Dass bei solchen Argumentationen nicht gesundheitspolitische Erfordernisse, sondern Industrie- und Lobbyinteressen im Vordergrund stehen, ist offenkundig. Wer Veganern „Essens-Ideologie“ vorwirft, gleichzeitig aber aller Evidenz zum Trotz wirksame Maßnahmen zur ernährungsmedizinisch sinnvollen Prävention verhindert, betreibt Volksverdummung und unseriöse Propaganda.

Die reale Versorgungssituation

Da die meisten Daten zur Nährstoffversorgung von Veganern aus einer Zeit stammen, als das vegane Lebensmittelsortiment inklusive fortifizierter (angereicherter) Produkte nicht annähernd so gut war wie heute, gibt es zur aktuellen Ernährungssituation keine aussagekräftigen Studien. Das konstatiert auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) in ihrer Stellungnahme (Richter et al. 2016): „Zur umfassenden Beurteilung der Versorgungssituation […] fehlen aktuelle aussagekräftige Studien mit vegan lebenden Menschen.“ Insofern gibt es auch keine aussagekräftige Studie, die ein grundsätzlich erhöhtes Gesundheitsrisiko z. B. im Rahmen veganer Kinderernährung zeigt.

Mit ihrer kritischen Haltung gegenüber der veganen Ernährung steht die DGE daher auch international ziemlich allein da: Gegenteilige bzw. deutlich weniger kritische Statements gibt es nicht nur von der amerikanischen Academy of Nutrition and Dietetics (AND 2016), der immerhin größten ernährungsmedizinischen Fachgesellschaft der Welt, sondern z. B. auch von den Fachgesellschaften aus Kanada (Amit 2010), Großbritannien (Phillips 2005), Australien (NHMRC 2013) oder anderen europäischen Ländern (NPPHD 2015). Über mögliche Motive der DGE kann hier nur spekuliert werden.

Fazit: Hauptsache gesund

Damit ist das Fazit eigentlich ganz einfach: Die Unterscheidung zwischen Mischkost (= nicht gesundheitsgefährlich) und vegan (= gesundheitsgefährlich) ist Unsinn. Mischköstler können sich sehr gesund oder sehr ungesund ernähren, und das Gleiche gilt für Veganer. Selbst in potenziell vulnerablen Phasen wie Schwangerschaft, Stillzeit oder Kindheit ist eine durchdachte vegane Ernährung weniger gesundheitskritisch als eine gedankenlose Mischkost. Für die Ernährungsberatung bedeutet das: Bei jedem Menschen müssen – je nach individueller Ernährungsweise – andere Dinge beachtet und berücksichtigt werden. Das gilt für Veganer und Nicht-Veganer in gleichem Maße.

Dieser Kommentar ist zuerst erschienen in der Deutschen Apotheker Zeitung (40/2017) am 05.10.2017.


Zum vieldiskutierten Kommentar “Vegane Ernährung: Wer ist hier ideologisch?” geht es hier.

Das Skript zum Vortrag auf der INTERPHARM 2018 “Vegane und vegetarische Ernährung: aber sicher!” gibt es hier.

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