“Dekade gegen Krebs”: Auf beiden Augen blind?

Publikumswirksam kündigen Gesundheitsminister Jens Spahn und Wissenschaftsministerin Anja Karliczek eine “Dekade gegen Krebs” an. Was beide ignorieren: Bereits heute könnte Millionen Krebskranken geholfen und ein Drittel aller Krebserkrankungen verhindert werden – durch Ernährungsprävention und -therapie. Zur Umsetzung wirksamer Maßnahmen bedarf es nicht einmal weiterer Forschung. Was hier fehlt, ist kein Geld, sondern der politische Wille, das dringend Notwendige zu tun.

Am 29.01. hat Gesundheitsminister Jens Spahn gemeinsam mit seiner Kollegin Anja Karliczek die “Nationale Dekade gegen Krebs” ausgerufen (Gemeinsame Erklärung hier). Die Handlungsfelder in dieser Dekade sind nichtssagend betitelt mit:

  • Krebsforschung ausbauen
  • Fortschritte der Krebsforschung aktiv umsetzen
  • Prävention und Gesunderhaltung verbessern
  • Nachwuchsförderung hohen Stellenwert beimessen
  • Partizipation stärken
  • Mobilisierung/Kommunikation verstärken
  • Wirksamkeit erfassen

Verbesserte Krebsforschung durch Prävention, Partizipation und Kommunikation klingt wunderbar, und niemand kann etwas dagegen haben. Oder, um es mit den Worten des Ministers und der Ministerin zu sagen: “Uns eint das Ziel, alle Kräfte in Deutschland zu mobilisieren und Krebs gezielt und erfolgreich zu bekämpfen.” Allein: es fehlen konkrete Maßnahmen. Und aus ernährungsmedizinischer Perspektive zeigt das Handlungsfeld 2 “Fortschritte der Krebsforschung aktiv umsetzen” nicht weniger als ein massives Vollzugsdefizit von Seiten der Politik. In der Realität nämlich wurden die Fortschritte der ernährungsmedizinischen Krebsforschung bislang vollkommen ignoriert und eben nicht aktiv umgesetzt.

Was jetzt endlich dringend passieren müsste, wäre genau diese politische Umsetzung der bisherigen Forschungsergebnisse. Wie dies geschehen kann, ist bereits bestens erforscht, von der WHO dokumentiert und in medizinisch-wissenschaftlichen Leitlinien auf höchstem Evidenz-Niveau beschrieben. Denn was nützen alle wohlfeilen Reden zur Forschungsförderung, wenn deren Resultate von den Verantwortlichen vorsätzlich ignoriert werden und in politischen Papierkörben verschwinden, weil die Ergebnisse nicht opportun sind? Die Forschung der letzten Jahre zeigt nämlich ziemlich genau, wie man einen Großteil der Krebserkrankungen verhindern könnte.

1. Ein Drittel aller Krebserkrankungen sind ernährungsbedingt.

Erstens: Rund ein Drittel aller Krebserkrankungen sind ernährungsbedingt (WCRF 2018). Das bedeutet: Allein durch politisch unterstützte Ernährungsprävention könnte man in Deutschland jedes Jahr ca. 160.000 Krebsdiagnosen verhindern. Das würde nicht nur unmessbares menschliches Leid vermeiden, sondern auch die enormen Kosten der onkologischen Therapien drastisch reduzieren. Zusätzlich würde durch eine krebspräventive Ernährung die Häufigkeit zahlreicher anderer Erkrankungen (Diabetes, Bluthochdruck, Herzinfarkt, Schlaganfall) drastisch sinken, wodurch quasi im Nebeneffekt auch diese Behandlungskosten eingespart werden würden.

Hauptursachen ernährungsbedingter Krebserkrankungen sind Alkohol sowie eine hyperkalorische Ernährung, die zu Übergewicht und Adipositas führt (Abbildung). Wirksame Maßnahmen, um die so verursachten Krebserkrankungen zu verhindern, müssten nicht einmal erforscht werden: Die Experten von WHO, World Cancer Research Fund (WCRF) und International Agency for Research on Cancer (IARC) haben die Forschungsergebnisse der vergangenen Jahrzehnte bereits ausgewertet, Maßnahmen vorgeschlagen, evaluiert und ihre Wirksamkeit nachgewiesen (z. B. WCRF-IARC Third Expert Report, WHO Fiscal Policies for Diet und WHO Global Action Plan). Nun bedürfte es allein der politischen Umsetzung:

  • Alkoholpreise erhöhen, Verfügbarkeit von Alkohol reduzieren
  • Einführung einer Zuckersteuer in Kombination mit einer “gesunden Mehrwertsteuer”, wodurch Obst und Gemüse günstiger werden
  • Etablierung rechtlich verbindlicher Qualitätsstandards für die Verpflegung in Kitas, Kindergärten und Schulen
  • Verbot der speziell an Kinder gerichteten Lebensmittelwerbung
  • begleitende Maßnahmen der Verhaltensprävention (z. B. Ernährungsbildung)

Das alles klingt nicht nach “High-End-Krebsforschung”, sondern nach allgemeinen Ernährungsempfehlungen zur “gesunden Ernährung”? Tatsächlich sind es jedoch (u. a.) genau diese “unspektakulären” Empfehlungen von WHO und medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften, die hochwirksam zur Krebsprävention sind.

Was dagegen erwiesenermaßen nicht funktioniert, ist die von der Landwirtschaftsministerin so gerne vorgebrachte Verhaltensprävention mit Informationskampagnen und freiwilligen Selbstverpflichtungen (Märchenstunde Verhältnisprävention). Infolge dessen sind in Deutschland mittlerweile 67 % aller Männer und 53 % aller Frauen übergewichtig oder adipös (Mensink et al. 2013) – und Übergewicht ist für sehr viele Krebsarten einer der stärksten Risikofaktoren überhaupt.

Gut zu erkennen: Die wichtigsten krebsursächlichen Ernährungsfaktoren sind Alkohol und ein hoher Körperfettanteil. Politische Maßnahmen, die den Alkoholkonsum reduzieren und die Entstehung von Übergewicht verhindern, wären auch hochgradig krebspräventiv.

2. Mangelernährung verschlechtert die Prognose von Krebspatienten.

Zweitens: Es ist ein unfassbarer Skandal, dass in einem Land wie Deutschland ein Großteil der Krebspatienten gemäß internationalen WHO-Kriterien mangelernährt ist. Diese Mangelernährung verschlechtert die medizinische Prognose, führt zu zahlreichen Komplikationen und bringt den Betroffenen unvorstellbares Leid. Ein Viertel (!) aller Krebserkrankten in Deutschland stirbt nicht an der Grunderkrankung, sondern an den Folgen einer Mangelernährung. Insgesamt sind rund 30 % aller Krankenhauspatienten in Deutschland mangelernährt, was spätestens seit der German Hospital Malnutrition Study (2006) bekannt ist (Pirlich et al. 2006). Was ist seitdem passiert? Nichts.

Allein die unmittelbaren Kosten, die infolge dieser Mangelernährung entstehen, belaufen sich in der EU auf jährlich 170 Milliarden Euro (Klek et al. 2017). Im Gegensatz dazu liegt das Jahresbudget des Deutschen Konsortiums für Translationale Krebsforschung (DKTK), dem auch das Deutsche Krebsforschungszentrum angehört, bei knapp 30 Millionen Euro.

Und auch hier gilt: Wirksame Maßnahmen, um die Mangelernährung von Krebspatienten zu lindern und im Krankheitsverlauf hinauszuzögern, sind längst umfassend erforscht und bekannt. Was hier dringend passieren müsste, wurde unter Leitung der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG) schon 2016 ausführlichst dargestellt (hier) und ist in den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) mit höchster wissenschaftlicher Evidenz zusammengefasst (hier).

Erst 2018 haben die deutschen Fachgesellschaften erneut Alarm geschlagen (Kasseler Erklärung) – ohne jede gesundheitspolitische Konsequenz. Die Umsetzung dieser Maßnahmen wäre mindestens kosteneffizient, würde nach konservativen Schätzungen aber vermutlich sogar erhebliche Kosten einsparen.

Und niemand sollte sagen, das wären rein wissenschaftliche Diskussionen, von denen die Öffentlichkeit (und die Politik) nichts mitbekommt. Das Drama um die Mangelernährungssituation in deutschen Krankenhäusern war wiederholt Gegenstand von Medienberichten, so z. B. hier und hier. Man weiß nicht, was noch passieren muss, damit diese Botschaft eine Politik erreicht, die sich bisher blind und taub stellt.

Es müsste gar kein “Entweder-Oder” sein

Das Beste an der Etablierung ernährungsmedizinischer Strukturen wäre: Es braucht gar kein “Entweder-Oder”-Entscheidung sein – entweder Geld für Ernährungsprävention und -therapie oder Geld für die Krebsforschung. Denn man kann die Krebsforschung unterstützen und gleichzeitig (endlich!) Ernährungsprävention und -therapie auf Bevölkerungsebene etablieren. Klingt wie Zauberei? Ist es aber nicht. Denn die wirksamen Ernährungsmaßnahmen sind nicht nur kostenneutral, sie würden dem Gesundheitssystem sogar massive Einsparungen ermöglichen – die man dann wiederum in die Krebsforschung investieren könnte.

Allein die Tatsache, dass die Ernährung noch immer dem Landwirtschaftsministerium zugeordnet (man möchte eher sagen: untergeordnet) ist, stellt ein nicht mehr zu rechtfertigendes Relikt aus dem letzten Jahrhundert dar. Die Zeiten, als es Hauptaufgabe der Landwirtschaft war, maximal viele Kalorien zu produzieren, um Hungersnöte zu verhindern, ist zum Glück vorbei. Heutzutage gibt es in Deutschland keine Hungertoten mehr, dafür aber jedes Jahr Hunderttausende, die an ernährungsbedingten Krankheiten sterben – und hierzu zählen eben auch rund ein Drittel aller Krebstoten. Die Ernährung gehört endlich ins Gesundheitsministerium – wohin denn sonst?

Gesundheits- und Ernährungsministerium: bitte endlich “mitwirken”!

In der Erklärung zur “Dekade gegen Krebs” heißt es von Seiten des Gesundheitsministers: “Wir rufen alle gesellschaftlichen Gruppen dazu auf, sich der Initiative anzuschließen und mitzuwirken.” Aus ernährungsmedizinischer Sicht klingt das wie blanker Hohn. Denn in der Vergangenheit war es stets die Politik, die sich der Umsetzung wirksamer Maßnahmen verweigert hat.

Im Sinne der Patientinnen und Patienten bleibt zu hoffen, dass im Rahmen der “Dekade gegen Krebs” das Gesundheits- und das Ernährungsministerium endlich bei der Realisierung wirksamen Maßnahmen mitwirken. Ansonsten ist auch die aktuelle Aktion nichts weiter als heiße Luft.

2 Kommentare

  1. Leider sind die Möglichkeiten der Ernährungstherapie nicht “werbe- und politik-wirksam”! Ansonsten ständ es bestimmt besser um uns, die tägliche ihre Arbeit im Bereich Mangelernährung Vor – während und nach der onkologischen Therapie tun.

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