Autismus, Multivitamine und Kamelmilch

Was haben Kamelmilch und Multivitamine gemeinsam? Richtig – beide werden schon länger als möglicherweise protektive Faktoren für die Entstehung von Autismus-Spektrum-Störungen diskutiert. Diskutiert wohlgemerkt. Klingt wie ein Scherz? Ist es aber nicht. Eine aktuelle Studie belebt diese Überlegungen auf’s Neue.

Autismus und Ernährung

Obwohl genetische Faktoren zur Entstehung von Autismus-Spektrum-Störungen (ASD) schätzungsweise 50 – 80 % beitragen (Gaugler et al. 2014; Sandin et al. 2014), wird seit längerem immer wieder diskutiert, ob nicht auch die Ernährung von Schwangeren das ASD-Risiko des später geborenen Kindes mit beeinflusst. Umfassende Analysen dazu stammen u. a. von DeVilbess et al. (2015), Bale (2015) oder ganz aktuell von Modabbernia et al. (2017). Die Datenlage aufgrund epidemiologischer Studien bleibt jedoch widersprüchlich, was in gleicher Weise für möglicherweise protektive Effekte von Multivitaminen, Eisen und Folsäure gilt (CHARGE-Studie, MoBa-Studie, DNBC-Studie, Schmidt et al. 2014, Schmidt et al. 2011).

Multivitamine in der Schwangerschaft gegen Autismus?

Eine aktuelle Studie, die jetzt im British Medical Journal (BMJ) veröffentlich wurde, hat sich wieder einmal dieser alten Frage nach ASD-protektiven Ernährungseinflüssen in der Schwangerschaft gewidmet. Dazu wertete Dr. Elizabeth DeVilbiss von der Drexel University in Philadelphia (USA) die Daten einer großen schwedischen Gesundheitsregisterstudie aus. In diesem Register aus dem Großraum Stockholm wurden über 273.000 Mutter-Kind-Paare erfasst. Die Schwangeren wurden dabei zu ihrer Einnahme von Multivitamin-, Eisen- und Folsäuresupplementen befragt. Diese Daten wurden dann mit der ASD-Häufigkeit der später geborenen Kinder korreliert.

Die Prävalenz von Autismus-Spektrum-Störungen mit kognitiven Einschränkungen betrug bei jenen Kindern, deren Mütter in der Schwangerschaft Multivitamine eingenommen hatten, 0,26 % (158 von 61.934 Kindern); für Kinder, deren Mütter in der Schwangerschaft keine Multivitamine eingenommen hatten, betrug sie 0,48 % (430 von 90.480 Kindern). Für die Einnahme von Eisen oder Folsäure während der Schwangerschaft ergab sich kein statistisch signifikanter Zusammenhang.

Wesentliche Einflussfaktoren nicht berücksichtigt

Im Rahmen dieser Auswertung war die Prävalenz von Autismus-Spektrum-Störungen nach Multivitamin-Einnahme in der Schwangerschaft folglich nur ungefähr halb so hoch wie ohne Multivitamine (0,26 % vs. 0,48 %). Doch was kann man daraus tatsächlich ableiten?

Die Schlussfolgerung der Studienautoren lautet nicht, dass jetzt möglichst alle Schwangere Multivitamine einnehmen sollten, sondern sie kommt zum Glück ganz bescheiden daher: Die Bedeutung von Ernährungsfaktoren während der Schwangerschaft für die Entstehung von Autismus sollte weiter untersucht werden, so das Fazit. In der Diskussion der Daten äußern sich die Studienautoren sogar noch weitaus zurückhaltender. Erfreulich realistisch konstatieren sie, aufgrund der vorliegenden Daten könne die Möglichkeit einer ASD-Risikoreduktion durch Multivitamine „nicht ausgeschlossen“ werden.

Diese sehr vorsichtige Interpretation der Daten hat gute Gründe. Beispielsweise liegen verschiedene Störfaktoren vor, die das Studienergebnis entsprechend beeinflusst haben könnten – diese Studie ist deshalb ein schönes Beispiel für den Kontext von Ernährung und anderen epidemiologischen Faktoren. Beispielsweise waren die Frauen, die die Multivitamine während der Schwangerschaft einnahmen, im Vergleich zu jenen ohne Multivitamin-Supplemente tendenziell älter, häufiger erstgebärend, häufiger Nichtraucherinnen und besaßen einen höheren sozioökonomischen Status.

All diese Faktoren können jedoch selbst möglicherweise eine direkte oder indirekte risikoreduzierende Funktion besitzen. Ebenfalls nicht erfasst wurden in der Studie die höchst unterschiedliche Zusammensetzung, die Dosierung, der Anwendungsbeginn und die Anwendungsdauer der Multivitamine-Präparate. Ach ja, und gibt es neben Supplementen nicht noch eine andere Quelle für Vitamine? Stimmt… Lebensmittel. Doch auch diese wurden in der Studie überhaupt nicht erfasst.

Was sagt uns die Studie also? Wissenschaftlich betrachtet eigentlich gar nichts. Doch auch diese Erkenntnis ist schon einmal viel wert, wenn man von ratsuchenden Schwangeren auf derartige Studienergebnisse – die sicherlich ihren Weg in die einschlägigen Foren und Ratgeberbeiträge finden werden – angesprochen wird.

Vielleicht doch besser ein Glas Kamelmilch?

In diesem Kontext ist mir eine frühere Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2016 eingefallen, die sich eben diesem Thema – Ernährung und Autismus – gewidmet hatte. Bereits damals kam die Autorin in der Gesamtschau der Literatur zu einer Schlussfolgerung, die unter Berücksichtigung der aktuellen Studie auch für die Prävention von Autismus-Spektrum-Störungen Gültigkeit besitzt: „Auf Grundlage der verfügbaren Daten lassen sich keine evidenzbasierten Empfehlungen für ernährungstherapeutische Interventionen bei Kindern und Jugendlichen ableiten”.

Das gilt ebenso für einen besonders bizarren Trend, der momentan in verschiedenen Internet-Foren eine neue Blüte erlebt: die Anwendung von Kamelmilch. Was wie ein Scherz klingt, wurde tatsächlich bereits in einzelnen Studien untersucht, die wenig überraschend aus dem arabischen Raum stammen (Adams 2013; Al-Ayadhi & Elamin 2013; Bashir & Al-Ayadhi 2014). Daneben gibt es einen expandierenden Internet-Markt für den Versand von Kamelmilch. Als möglicherweise wirksame Kamelmilch-Komponenten werden unter anderem immunmodulierende Antikörper, Lactoferrin und Vitamin C diskutiert. Für den Nachweis der Kamelmilch-Wirksamkeit gilt jedoch das Gleiche wie für den Nachweis der Multivitamin-Wirksamkeit: es gibt ihn nicht – und es wird ihn vermutlich auch niemals geben.

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